Auf der Suche nach neuen Wegen

Bericht
von der Jahrestagung 2023 in Hofgeismar

„Glauben und Denken – passt das zusammen?

Liberales Christentum im Gespräch mit Karl Jaspers

Bericht von der Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum in Hofgeismar



Die Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum fand in diesem Jahr (29. Sept. – 1. Okt.) in der Evangelischen Akademie Hofgeismar statt und behandelte das Thema „Glauben und Denken – passt das zusammen? Liberales Christentum im Gespräch mit Karl Jaspers“.

Der Studienleiter der Akademie, Michael Nann, und der Präsident des Bundes, Prof. Dr. Werner Zager, eröffneten die Tagung am Freitagabend. Zager stellte den Bund kurz vor und verwies auch auf dessen 75-jähriges Bestehen. 

Er stellte auch den ersten Referenten, Dr. Michael Großmann, vor, der mit seinem Vortrag „Philosophischer Glaube?“ in das Denken von Karl Jaspers einführte. Für Jaspers, der als Mediziner und Psychiater zur Philosophie gekommen war, waren Begriffe wie „Existenz“ und „Freiheit“ von grundlegender Bedeutung. Obwohl von Kindheit an in Distanz zum kirchlichen Glauben erzogen, sah er doch den Glauben als tragendes Fundament seines Denkens. Philosophie und Theologie hatten für ihn einen gemeinsamen Ausgangspunkt: nämlich den Glauben, der über die Gewissheit des Denkens hinausgeht. Der Theologie warf Jaspers allerdings vor, ihren Glauben auf „Offenbarung“ zu gründen. Zwar erkannte Jaspers Offenbarung „in einem weiteren Sinn“ an, insofern Menschen sich von Gott angesprochen wissen, aber er lehnte Offenbarung „in einem engeren Sinn“ ab, wenn darunter verstanden werde, dass Gott den Menschen konkretes Wissen offenbart haben soll, wie es für die Bibel beansprucht wurde. Wer Offenbarung im letzteren Sinn versteht, glaubt Wahrheit für sich gepachtet zu haben und den absoluten Willen Gottes erkennen zu können.

Großmann erläuterte dann Jaspers Perienchontologie, womit er seine Lehre vom „Umgreifenden“ meinte. Jaspers unterschied mehrere Ebenen des Seins: das Dasein des Menschen, der seine Umgebung erlebt und dabei vom Triebhaften bestimmt ist. Hinzu komme die Bewusstseinsebene, die über das bloße Dasein hinausgeht, aber sich immer noch auf Gegenständliches bezieht. Das Bewusstsein bedarf jedoch der Beseelung, die durch den Geist erfolgt. Geist schafft Bedeutung. Dasein, Bewusstsein und Geist seien unterschiedliche Weisen der Bezugnahme auf die Welt. Aber sie sagen uns nicht, was sein soll, was eigentliche Existenz ist. Existenz müsse mehr sein als Sosein, sei also mögliche Existenz. Existenz wird nicht von uns geplant oder gemacht, vielmehr würden wir von ihr ergriffen. Wirkliche Existenz habe mit Grenzsituationen wie Schuld, Leid und Todesnähe zu tun. Das Geheimnis unserer Existenz liege im Dunkeln, weshalb es gerechtfertigt sei, diesbezüglich auch von „Transzendenz“ zu sprechen: das Unbedingte hinter allem Bedingten. Dieses Unbedingte sei für uns nur im Glauben erschließbar, nicht mit dem Verstand. Jaspers unterscheidet allerdings – Kant folgend – zwischen Verstand und Vernunft, wobei Vernunft den großen Seinszusammenhang zu erkennen versucht. Dieses Ganze der Welt bekommen wir jedoch nie voll in den Blick. Gleichwohl gelte es, „philosophierend aufs Ganze“ zu gehen.

Diesem großen Ganzen stehen Jaspers’ „Chiffren“ gegenüber, die alles bedeuten können, was uns erscheint. Chiffren bleiben stets vieldeutig und können mit Metaphern verglichen werden. Die Bibel enthält eine Fülle von Metaphern oder Chiffren; wir könnten von einem kaum zu durchdringenden „Chifferngestöber“ sprechen, so Großmann. Als Suchende gelangen wir aber niemals ans Ziel, wenn unter diesem Ziel der endgültige Besitz von Wahrheit verstanden werden soll. Die Suche nach der Wahrheit kann nur in unablässiger Kommunikation erfolgen.

Großmann ließ auch Jaspers’ Achsenzeit anklingen, ohne darauf näher einzugehen. Es gehe dabei um kulturelle Umbrüche und entscheidende philosophische Fortschritte, die auf die Menschheit einen kaum zu überschätzenden Einfluss hatten.

Jaspers blieb, im Urteil Großmanns, ein Außenseiter. Dass er im Glauben den Dreh- und Angelpunkt seines Philosophierens sah, habe ihn verdächtig erscheinen lassen. Adorno kritisierte Jaspers’ Verwendung von „Edelsubstantiven“, und kritikwürdig sei auch sein widersprüchlicher Umgang mit dem Begriff der „Transzendenz“. Transzendenz lag Jaspers zufolge jenseits des Gegenstandes von wahr und falsch, womit er das Gespenst des Agnostizismus nicht vertreiben konnte. Jaspers war zweifellos ein Grenzgänger der Philosophie. Wir können zwar viel wissen, bekommen aber das Ganze der Welt nicht in den Blick, bleiben stets auf der Suche nach der Wahrheit und können uns auch nicht sicher sein, was wirklich zu hoffen ist. Großmann glaubte Jaspers’ Philosophie einfangen zu können mit einem am Vortragsende preisgegebenen Spruch:
„Ich komme, ich weiß nicht woher,
Ich bin, ich weiß nicht wer,
Ich sterb, ich weiß nicht wann,
Ich geh, ich weiß nicht wohin,
Mich wundert’s, dass ich fröhlich bin.“

Nach der Andacht am Samstagmorgen, bei der Pfarrerin Dagmar Gruß, Vorstandsmitglied des Bundes, über die Weisheit sprach, die mehr als Vernunft sei und unser eigentliches Ziel als Christen sein müsse, sprach Dr. Reinhard Salomon in seinem Vortrag über die „Grenzen vernünftigen Denkens“ und über Jaspers als dem „Denker auf der Grenze“. Jaspers selbst erlebte Grenzerfahrungen; etwa, wenn er 1945 kurz davorstand, mit seiner jüdischen Ehefrau von den Nazis deportiert zu werden, aber durch den Einmarsch der Amerikaner davor verschont blieb. Salomon sprach über ideologische, metaphysische und religionsgeschichtliche Grenzüberschreitungen (und -übergriffe). Im Blick auf die Metaphysik gelte, dass das menschliche Fragen erst dann zur Ruhe komme, wenn es an Grenzen stößt, über die nicht mehr hinausgefragt werden kann.

Für diese Grenzfragen steht Jaspers dreibändige Philosophie, in der er sich mit Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik befasste. In der Weltorientierung haben Sphären wie Wissenschaft, Wirtschaft oder Kunst ihre Berechtigung, doch könne sich in jeder dieser Sphären das Anliegen des Glaubens ausdrücken. Die Philosophie befasse sich mit dem Ursprung aller Sphären, wird sich aber damit begnügen müssen, nur andeutende Hinweise auf das Unfassbare, Unaussprechliche zu finden. Philosophie transzendiere zwar die Forschungsergebnisse der Wissenschaften, bleibe aber stets auf diese angewiesen. Wissenschaft und Philosophie zielen, je auf ihre Weise, auf das letztlich unerreichbare Ganze der Welt ab. Gleichwohl sei die Grenzziehung zwischen Wissenschaft, Philosophie und Glauben strikt zu beachten. Der Begriff „Wissenschaft“ gibt zwar vor, etwas zu wissen, im Grunde gehe es aber auch hier nicht um striktes Wissen, sondern um hypothetisch Angenommenes.

Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Religion gehe es letztlich um „Wahrheit“, wenngleich sich Philosophie und Religion um andere Wahrheiten bemühten als die Naturwissenschaften. Philosophie und Religion seien wesentlich auf Tradition angewiesen. Der Unterschied dabei sei, dass die Religion oftmals die Unterwerfung unter die Tradition fordere, während die Philosophie eine solche Unterwerfung als Verrat an der menschlichen Freiheit empfindet. Jaspers kritisierte das Traditionsdenken der Bibelgläubigen und begründete dies damit, dass die Autorität der Heiligen Schrift sich doch nur auf das Zeugnisgeben der biblischen Schreiber gründete. Ein Zeuge aber zwinge niemanden. Er lege lediglich Zeugnis von seinen Erfahrungen ab. Trotz seiner Kritik am Bibelglauben vermochte Jaspers das Negative ebenso wie das Positive in den Religionen zu sehen. Religion gebe dem Menschen eine besondere Stellung, fordere von ihm aber auch eine besondere Verantwortung. Er kritisierte an der Religion die Tendenz zur Ideologisierung, wenn sie zur objektiven Gewissheit verkomme und sich absolute Wahrheiten anmaße. Der Mensch müsse nicht für die Religion dienen, sondern die Religion müsse dem Menschen dienen.

Salomon zufolge war Jaspers Religionsphilosophie von Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit getragen. Für ihn gehörten Existenz und Vernunft eng zusammen. Existenz werde uns erst durch Vernunft bewusst, und Vernunft bekomme erst durch Existenz ihren Gehalt. Ebenso seien Philosophie und Religion aufeinander angewiesen. „Religion braucht, um wahrhaftig zu bleiben, das Gewissen der Philosophie. Philosophie braucht, um gehaltvoll zu bleiben, die Substanz der Religion.“

Der anschließende Vortrag von Dr. habil. Wolfgang Pfüller befasste sich vor allem mit den „Chiffren der Gottheit“. Wie soll man wahrhaftig von Gott reden? Der Referent empfand die Ausführungen Jaspers’ „ziemlich weitschweifig und redundant, zudem nicht selten wolkig“. Pfüller zitierte auch Einstein, auf den Jaspers gewirkt habe „wie das Reden eines Trunkenen“. Doch versuchte Pfüller, Licht in dieses „Gewölk“ zu bringen. Wahrhaftigkeit ist nach Jaspers als rückhaltloser Wille zur Wahrheit zu verstehen, ohne dass der Weg je sein Ziel erreiche. Jaspers unterschied zwischen verschiedenen Weisen der Wahrheit, vor allem zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Wahrheit. In jedem Fall müsse Wahrheit kommunikativ sein, denn sie ist „das, was verbindet“.

In Bezug auf die Gottesfrage sprach Jaspers mal von einem (wohl persönlich verstandenen) „Gott“, mal von der „Gottheit“, mal von der „Transzendenz“. Der erste Begriff käme einer Chiffre (oder Chiffer) gleich. Kompliziert wurde die Sache dadurch, dass Jaspers zwischen Chiffren, Symbolen und Zeichen unterschied. Zeichen bezeichnen etwas Gegenständliches, Symbole bzw. Chiffren (die von ihm oft, aber nicht immer synonym verwendet wurden) weisen auf Transzendentes hin, vergegenwärtigen dieses auch. Chiffren seien die Sprache der Transzendenz. Aber grundsätzlich könne alles zu einer Chiffre werden, so auch die Transzendenz, insofern man das Göttliche zum Götzen erniedrige (nämlich durch leibhaftige Depotenzierung). Transzendenz ist für Jaspers das, was alles umgreift (das „Umgreifende“). Sie ist zwar prinzipiell unzugänglich, jedoch erfahrbar. Erfahrbar ist sie vor allem in der Freiheit, in der Kommunikation und in der Liebe. Transzendenz sei – bei aller Unzugänglichkeit – im Wesentlichen „Heilswirklichkeit“. Und das sei genug. Und so findet sich bei Jaspers immer wieder der Satz: Dass Gott ist, ist genug. Für die Chiffren Gottes gelte also, dass einerseits ihre Transzendenz (also auch ihre Unverfügbarkeit) gewahrt werden muss, sie andererseits aber auch ihren Heilscharakter in Freiheit, (echter) Kommunikation und Liebe zum Ausdruck bringen.

Chiffren der Transzendenz fand Jaspers zuhauf in der abendländischen Tradition, aber auch in den fernöstlichen Traditionen. Daraus entwickelte er eine „Weltgeschichte der Philosophie“, also eine „philosophia perennis“ (eine ewige Philosophie), die es schon immer und überall gegeben habe. Insofern ist Philosophie immer schon religiöse Philosophie gewesen. So auch bei Karl Jaspers.

Prof. Dr. Werner Zager, Präsident des Bundes für Freies Christentum, sprach am Samstagnachmittag zum Thema „Wahrhaftig von Jesus reden“. Religion sei für Jaspers etwas gewesen, was uns als Menschen wesentlich angehe und in Unruhe hält. Philosophie und Religion müssten deshalb miteinander im Gespräch bleiben. Ein solches Gespräch sei aber nur möglich, sofern die Gesprächspartner sich nicht im Besitz einer endgültigen Wahrheit glauben. Für Jaspers waren christliche Theologen immer wieder wichtige Gesprächspartner, mit denen er sich auseinandersetzte, mit denen er aber zuweilen auch seine Verständnisprobleme hatte.

Jaspers gab offen zu, an welches Christentum er nicht glaubte. Er glaube nicht an eine Offenbarung, wenn diese für die einzig wahre gehalten werde. Er glaube auch nicht, dass Gott in Jesus Mensch geworden sei oder dass Jesus ein Gottmensch gewesen sei. Bei aller Kritik am Christentum verstand sich Jaspers gleichwohl als ein guter Protestant. Eine auf das Christentum beschränkte Offenbarung lehnte er ab, da doch andere Religionen ebenfalls etwas von Gott wüssten. Gott lokalisiere sich nicht an einem bestimmten Ort oder nur zu einer bestimmten Zeit. Deshalb könne er auch Jesu Kreuzestod und seine Auferstehung nicht als objektives „Heilsgeschehen“ verstehen. 

Die Chiffre „Gott ist Mensch geworden“ hielt Jaspers für problematisch; sie sei Anlass für zahlreiche kirchliche Spekulationen geworden. Auch den Sühnetod Christi lehnte er ab. Zudem habe sich Jesus nicht zum Messias (also zum Christus) erklärt, sich selbst nicht zum Sakrament gemacht und auch keine Kirche gestiftet. Dennoch hielt Jaspers den Rückbezug auf den Menschen Jesus für notwendig. Jesus bleibe bedeutsam aufgrund seiner Aufrichtigkeit, seinem Menschsein und seiner Botschaft vom Reich Gottes.
Aber Jesus sei nicht der alleinige maßgebliche Mensch gewesen. Auch Sokrates, Buddha und Konfuzius hätten eine außerordentliche Bedeutung für die Menschheit gehabt und seien Grundlage philosophischer Denkbewegungen geworden. Alle vier hätten den Menschen das Bewusstsein für eine tiefe Innerlichkeit vermittelt, die vor allem Tun liege und auf das Sein selbst, auf die Ewigkeit, auf Gott hinweise.

Was das Leben Jesu angeht, so können wir Jaspers zufolge aufgrund der historischen Kritik zwar nichts Sicheres wissen, gleichwohl sei es möglich, sich ein Bild von der geschichtlichen Person zu machen. In Bezug auf die Verkündigung Jesu gab Jaspers eine (im deutschsprachigen Raum weithin gängige) Auffassung wieder, als er schrieb: „Die Verkündigung von Weltende und Gottesreich meint ein kosmisches Ereignis. Aber es ist nicht ein Ereignis in der Welt, in dem eine neue Welt geboren würde, sondern ein Ereignis, mit dem die Welt aufhört. Es ist ein Einbruch in die Geschichte, mit der die Geschichte abgeschlossen ist. Das Gottesreich ist weder Welt noch Geschichte, auch kein Jenseits dieser Welt. Es ist etwas ganz anderes.“ (Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1, München 1957, S. 187)

Jaspers verwies auch auf Jesu Doppelgebot von der Gottes- und Nächstenliebe. „Die Liebe ist, wo sie zweckfrei und weltfrei geworden, Wirklichkeit des Gottesreichs. Dann ist sie uneingeschränkt, bedingungslos.“ (S. 191) Jesu gewaltsames Ende bringt Jaspers mit der Tempelreinigung in Verbindung. Jesus sei kein Philosoph gewesen, auch kein Sozialreformer, kein Politiker, und er habe auch keinen Kult und keine Kirche gestiftet. In ihm verbanden sich Sanftmut ebenso wie kämpferische Unbedingtheit. Er sei der letzte der jüdischen Propheten gewesen. Man müsse aber unterscheiden zwischen Jesus vor seinem Tod und seiner Bedeutung danach, als er von der Kirche zum Christus gemacht worden sei. Für den philosophisch denkenden Menschen sei der Gottmensch eine „in die Irre führende Absurdität“.

Was Jesus zum maßgeblichen Menschen mache, sei seine Hingabe an den Willen Gottes. Daraus resultierte ein bedingungsloses Ethos, das scharf unterscheide zwischen gut und böse, wahr und falsch. Jaspers plädierte zwar nicht für eine Nachfolge Jesu, wohl aber für eine Orientierung an der Person Jesu. Wir müssten uns – hier folgt er Albert Schweitzer – von den zeitgebundenen Vorstellungen in der Verkündigung Jesu lösen und die Aufgabe wahrnehmen, die er uns für die heutige Zeit stellt.

In einem Resümee lehnt Werner Zager, mit Jaspers, die alleinige Offenbarung Gottes im Christentum ab. Auch die Menschwerdung Gottes in Jesus sei fraglich; auch die Auferstehung wie der Opfer- bzw. Sühnetod Jesu lassen sich heute weitgehend psychologisch erklären. Für den philosophischen Glauben sei Jesus nicht der einzig maßgebende Mensch, aber mit seiner Haltung, seinem Verhalten und seinen ethischen Weisungen vermag er auch heute noch Orientierung zu geben.

Den ersten Sonntagmorgen-Vortrag hielt der gerade promovierte Vikar Dr. Raphael Zager, der über Jaspers und sein Verhältnis zu Martin Werner und Ulrich Neuenschwander sprach. Jaspers habe großen Einfluss auf diese beiden Schweizer Theologen seiner Zeit ausgeübt. Zwischen Jaspers und Martin Werner gab es einen regen Briefwechsel; und Werner-Schüler Neuenschwander maß Jaspers große Bedeutung bei. Die Schweizer Theologen mussten die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg in ihre Theologie aufnehmen und auch für ihr Transzendenzverständnis berücksichtigen. 

Neuenschwander sprach angesichts des Krieges nicht nur von der Abgründigkeit des Menschen und der Welt, sondern auch von der Abgründigkeit Gottes. Gott wurde für Neuenschwander mehr denn je zum verborgenen Gott, dessen Sinn niemand mehr recht verstehen könne. Gleichwohl lernten die Schweizer Theologen von Jaspers, der von Existenz nicht zu reden vermochte, ohne zugleich von Transzendenz zu reden. Aber Transzendentes blieb stets unverfügbar, wie auch die Suche nach der Wahrheit nie zum Besitz der Wahrheit führen könne. Philosophisches Denken findet nicht innerhalb geschlossener Systeme statt (wie in der Theologie), sondern müsse stets offen bleiben. Insbesondere existenzielle Grenzsituationen könnten – trotz oder gerade wegen der damit oft verbundenen Sinnkrisen – zum Glauben und damit zum sinnhaften Menschsein hinführen. Jaspers sprach vom Glaubenssprung in der Sinnkrise, und Martin Werner bezeichnete Gott als den Seinsgrund und Sinngrund. Neuenschwander sprach von einem ehrfürchtigen Sichbeugen vor dem Unverstandenen.

Philosophie zeichnet sich aus durch den Dialog zwischen Glauben und Vernunft. Schon Kant hatte bekennen müssen: „Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Für Jaspers waren Wissen und Glauben aufeinander angewiesen. Und Martin Werner meinte, dass Theologie und Philosophie widerspruchsfrei sein müssten; er sprach von der „Rationalität“ des Glaubens. Für Jaspers war der Glaube das Bewusstsein der Existenz in Bezug zur Transzendenz. Bei Werner führte der Glaube zur Ehrfurcht vor Gott und diese wiederum zur Ehrfurcht vor dem Leben (womit er an Albert Schweitzer anknüpfte).

Raphael Zager schloss mit einigen Thesen ab. Es gelte, zeitgemäß von Transzendenz zu reden. Philosophischer Glaube müsse als Prozess, nicht als Dogma, verstanden werden. Ferner gelte es, Menschen mit ihren Transzendenzerfahrungen ernst zu nehmen. Die Vernunft muss ernst genommen, die Unvernunft abgewehrt werden. Aber neben der Vernunft gehören Freiheit und Toleranz untrennbar zum Glauben hinzu.

Die Schweizer Pfarrerin Esther R. Suter referierte über ihren theologischen Lehrer Fritz Buri, der sich kritisch mit dem in der Schweiz weithin anerkannten Karl Barth auseinandersetzte und sich so im Spannungsverhältnis zwischen liberaler und dialektischer Theologie wiederfand. Buri ging aber seinen ganz eigenen Weg. In erster Linie verstand er sich als Schüler Albert Schweitzers, dessen theologische Ansätze er systematisch durch- und weiterdenken wollte. Er kam auch mit fernöstlicher Philosophie in Berührung und folgte den Spuren des Konfuzianismus und Buddhismus. 

Buri war zudem Mitglied des Schweizer „Vereins für freies Christentum“ und vertrat diesen auch bei der „Internationalen Vereinigung für freies Christentum und religiösen Fortschritt“, dem heutigen IARF. Vermutlich angeregt durch seinen Lehrer Martin Werner bezog sich Buri auch auf Karl Jaspers und in gewisser Weise auch auf Heidegger. Insofern wurden Wörter wie Existenz, Selbst, Selbstverständnis und Verantwortung zentrale Begriffe bei Buri. Er befasste sich intensiv mit Aspekten von Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ und dem Verhältnis von Denken und Lebenswillen; dabei brachte er das Existenzverständnis von Karl Jaspers mit Schweitzers Willen zum Leben zusammen, um mehr Klarheit in Schweitzers Ansatz hineinzubringen. Buri deutete Schweitzer existenzphilosophisch. 

„Das existenzphilosophische Verständnis von Existenz meint eine Seinsmöglichkeit“, so Esther Suter. „Jaspers versteht darunter ein Sein, das sich immer erst zu entscheiden hat, was es sein kann, was also nicht einfach da ist und gegenständlich erfasst werden kann. Existenz ist kein Gegenstand wissenschaftlicher Weltorientierung, sondern bleibt unfassbar und kann weder sich selbst noch andern rational bewiesen werden.“ Im Vergleich von Schweitzer mit Jaspers ergibt sich für Buri, dass er „Ehrfurcht vor dem Leben“ nicht mehr als denknotwendiges Prinzip auffassen kann, aus dem sich Weltanschauung begründen lässt, sondern lediglich als eine  „Chiffre für Existenz“, in der die besondere Sinnmöglichkeit der Existenz für mich zum Ausdruck gebracht werden kann.

Soweit die Vorträge zu Karl Jaspers im kurzen Zeitraffer. Am Samstagnachmittag wurde über Jaspers in drei Arbeitsgruppen diskutiert. Und am Ende der Tagung auch noch im Plenum (unter der Leitung des Studienleiters Michael Nann). 

In den Diskussionen wurde u.a. hervorgehoben, dass der Zweifel ein steter Begleiter des Glaubens und Glauben immer als Prozess und als Suche zu verstehen sei. Es stellte sich auch die Frage, was denn noch bleibe, wenn – wie durch die Vorträge deutlich wurde – die christliche Dogmatik infrage zu stellen sei bzw. ganz wegfalle. Eine Antwort lautete, dass der Kern des Christentums, nämlich die Person und Botschaft Jesu noch viel Substanzielles biete, auf das sich Christen beziehen könnten. Eine andere Antwort war die, dass man die Dogmatik nicht einfach entsorgen solle, sondern immer wieder aktualisieren und modernisieren müsse. Das sei die ureigentliche Aufgabe der Theologie. Etwas zu kurz kam die immer wieder auftauchende Frage nach Jaspers’ „Achsenzeit“, die aber nie in ausreichender Ausführlichkeit behandelt werden konnte.

Der Samstagabend stand unter dem Zeichen des Organisten, Pianisten und Dirigenten Max Reger, dessen 150. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Wolfgang Pfüller führte in das Wirken Regers ein und präsentierte einige typische Beispiele aus dessen mannigfaltigen Kompositionen.



Der Sonntagsmorgen-Gottesdienst fand in der der Akademie gegenüberliegenden Brunnenkirche statt. Die Predigt zum Erntedanktag hielt Pfarrerin Dr. Christine Siegl, basierend auf Jer 45. Zuvor fand noch eine Kindertaufe statt. 

Als Credo wurde das Ringstädter Glaubensbekenntnis verwendet.







Am Ende der Tagung hatten viele den Eindruck, persönlich bereichert worden zu sein. Es stellte sich zu guter Letzt auch eine harmonische Stimmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein, die sich gerne von dem liberalen Geist der Tagung hatten inspirieren lassen.

Bericht: Kurt Bangert
Fotos: Dorothea Zager